Raindance hatte gelernt, dass sie in der Herdenrangordnung ganz unten war. Als jüngstes Kalb der Herde musste sie ständig auf der Hut sein, ausweichen und Platz machen. Selbst die älteren Kälber stiessen sie manchmal weg, ganz besonders aber die ranghöchsten Kühe und natürlich Choose, der Chefbulle.
Nun stellte Raindance aber fest, dass auch Choose vor jemandem zurückwich. So sehr er seinen Rivalen Dusty bei jeder Gelegenheit in die Schranken wies, so sehr respektierte er selber die Menschen. Er drängelte sich an der Wellness-Station zwar immer vor und liess sich ausgiebig kraulen - allerdings nur, weil ein Zaun dazwischen war. Fehlte dieser und trugen die Menschen einen Stock oder etwas ähnliches bei sich, wich Choose immer sofort zurück. Das schien seinen Stolz keineswegs zu verletzen. Er anerkannte ganz einfach die Überlegenheit eines anderen Wesens und zwar, obschon dieser Stock ihm noch nie ein Leid zugefügt hatte. Raindance verstand. Auch sie hatte bisher keine schlechten Erfahrungen mit den Menschen gemacht. Trotzdem forderte der ihr angeborene Instinkt eine gewisse Vorsicht, sobald weder ihre Mutter noch ein Zaun sie schützte.
Zwei von Raindances Lieblingsmenschen waren Jürg Keller und Susanne Sommer. Natürlich wusste Raindance nicht, wie sie hiessen. Aber sie brachten stets Futter oder frisches Stroh, machten neue Weiden auf und kraulten ihr den Kopf. Oder den Hintern. Meistens waren sie gut drauf. Dann redeten sie freundlich mit jedem Mitglied der Herde. Hin und wieder schimpften sie auch mit jemandem - allen voran mit Petra und Dusty, Raindances Eltern. Die beiden standen beim Ausmisten oft im Weg und das mochten die Menschen gar nicht. Wie alle Höherrangigen erwarteten sie, dass man ihnen den Weg freimachte. Und das taten die Eltern schliesslich auch jedes Mal. Aber wenn die Menschen zur Wellness-Station kamen, dann waren sie stets entspannt und liessen sich manchmal sogar das Salz vom Gesicht lecken.
Die beiden alten Menschen vom Stall nebenan kamen noch fleissiger zu Besuch als Jürg und Susanne. Sie brachten ebenfalls Futter in Form von hartem Brot, Äpfeln oder Rüstabfällen. Weder betraten sie jedoch das Texas Longhorn Territorium hinter dem Zaun noch schafften sie das grosse Futter wie Heu und Luzerne herbei. Sie waren eher wie freundliche Zuschauer. Daran erkannte Raindance, dass sie nicht die Chefs sein konnten.
Auch zwischen Jürg und Susanne gab es einen Unterschied. Raindance hätte es nicht erklären können, aber sie spürte, dass Jürg irgendwie ranghöher war als Susanne. Im Gegensatz zu den ihr überlegenen Texas Longhorns machte ihn das jedoch nicht gemein, es machte ihn nur sehr klar. Raindance beobachtete und verstand das ohne nachzudenken. Für sie war Jürg ganz klar der unbestrittene Chef über allem.
Ab und zu kamen weitere menschliche Besucher. Diese hatten in der Herde überhaupt nichts zu melden. Sie durften immer nur in Begleitung von Jürg oder Susanne in den Stall. Raindance fand Besucher ganz interessant, aber es gefiel nicht allen in der Herde; besonders wenn der Besuch mit der Essensausgabe zusammenfiel - was oft geschah. Snowgirl beispielsweise schätzte es überhaupt nicht, wenn ein Fremder sie während des Fressens streichelte. Und das zeigte sie auch sehr deutlich. Hätte Snowgirl gewusst, dass manche Essensausgabe ohne die Besucher gar nie stattgefunden hätte, vielleicht hätte sie anders darüber gedacht.
Für Raindance zählte, neugierig wie sie nun mal war, mehr die Abwechslung, die solche Besucher mit sich brachten. Denn beim Fressen hatte sie - wie alle anderen Kälber auch - sowieso nicht viel zu melden. Aber Raindance war klug; klüger und vorwitziger als die anderen Kälber und bald sollte sie eine Möglichkeit entdecken, wie sie ganz in Ruhe zu ihrem Fressen kam.
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