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Raindance kriegt Ohrmarken

Nachdem Raindance den ganzen ersten Nachmittag ihres Lebens draussen verbracht hatte, sich jetzt merken konnte, wo Mutters Euter sass und dass es niemals verrutschte, sich hatte treiben lassen im Sog der Herde und Sonne, Wind, Gras und Bäume kennengelernt hatte, wurde es Zeit für etwas Neues. Etwas ganz Neues.


Die Mutter schien es jetzt unaufhaltsam in eine Gegend zu ziehen, die Raindance noch nicht kannte. Die gesamte Herde wurde offenbar angelockt von einem geheimnisvollen Ort und Raindance folgte aufmerksam. Am Ende der grünen Wiese kam sie an einen kargen Weg. Der Weg führte an einem Abhang mit bunten Blumen und einem kleinen Häuschen vorbei. In dem Häuschen summte es recht laut. Es war kein böses Geräusch. Es klang eher beschäftigt. Die anderen Texas Longhorns achteten nicht weiter darauf und trotteten gemütlich vorbei. Ihre Mutter wartete oberhalb des Häuschens. Raindance beschloss, dass es in Ordnung war, vorbeizugehen. Sie folgte wacker dem Weg, schnupperte im Vorbeigehen einmal kurz an dem Häuschen und kam dann an einem komischen Ort.


Sie beobachtete, wie alle Texas Longhorns auf ein dunkles Loch zusteuerten, vor dem ein durchsichtiger Streifenvorhang hing, der sich hin und her bewegte. Ein Tier nach dem anderen steuerte direkt auf den Vorhang zu, senkte den Kopf und verschwand in dem Loch. Jedes Mal, wenn ein Tier hindurchging, wackelte der Vorhang mächtig und beruhigte sich dann rasch wieder. Von drinnen kamen ganz klar Kaugeräusche und sie hörte ein seltsames Rascheln, das sich weich und gemütlich anhörte. Aber Raindance traute dem Loch nicht. Und zu allem Überfluss verschwand jetzt auch noch die Mutter dahinter und kam nicht mehr hervor.


Raindance bekam es mit der Angst zu tun. Sie rannte davon, vorbei am summenden Häuschen, zurück auf die Weide, die sie kannte und die - wie sie sicher wusste - ungefährlich war. Aber kaum war sie draussen, fühlte sie sich allein. Sehr allein. Sie musste ihre Mutter finden. Und sie vermisste auch den Rest der Herde. Sie suchte überall, kam an Orte, die sie nie zuvor gesehen hatte, vorbei an völlig neuen Dingen, die sie ängstigten, aber auch interessierten und an denen sie schnupperte - sie konnte einfach nicht anders.


Auf einmal kniete ein Wesen vor ihr auf dem Boden und sprach zu ihr. Es klang freundlich. Dennoch war sie nicht sicher, ob sie dem Wesen trauen konnte. Es sah komisch aus mit seinen langen Armen und Beinen. Auf einmal tauchte auch hinter ihr ein ähnliches Wesen auf, das sich ebenfalls freundlich anhörte. Sie kamen also ebenfalls in Herden.


Raindance beschloss, sich eines davon mal näher anzuschauen und daran zu schnuppern. Aber kaum war sie auf Tuchfühlung gegangen, fing das Wesen sie mit seinen langen Armen ein. Es tat nicht weh und das Wesen sprach immer noch freundlich zu ihr, aber Raindances Herz klopfte jetzt wie wild. Sie merkte, wie sie vom Boden gehoben wurde. Das mochte sie überhaupt nicht und sie versuchte wegzurennen, aber es ging nicht. Also rief sie stattdessen abwechselnd nach der Mutter und beschnupperte dann wieder das Wesen, das sie davontrug.


Das zweite Wesen öffnete derweil eine Tür. Da machte ihr kleines Herzlein einen Sprung, denn hier war ja ihre ganze Herde versammelt! Sie sah gerade noch, wie ihre Mutter in leichter Panik durch das Loch nach draussen wollte, um sie zu suchen. Raindance rief nach ihr. Da drehte die Mutter um und antwortete ihr. Raindance war erleichtert. Sie spürte, wie sie abgestellt wurde, aber nicht losgelassen. Sie befand sich jetzt im Tenn, nahe bei der Futterkrippe, so dass die Mutter vom Stall aus an ihr schnuppern konnte. Die Mutter war damit noch nicht zufrieden und muhte auf die beiden Wesen ein. Diese antworteten etwas Unverständliches, aber noch immer klang es freundlich. Eines der Wesen kitzelte Raindance am Ohr. Auf einmal knackte es in diesem Ohr. Raindance spürte einen kurzen stechenden Schmerz und schüttelte den Kopf. Bald darauf kitzelte das andere Ohr und gleich anschliessend fuhr derselbe Schmerz auch in dieses. Jetzt wollte Raindance weg von den beiden Wesen, zurück zur Mutter. Aber erneut wurde sie vom Boden gehoben. Hätte Raindance die Sprache der Menschen verstanden, hätte sie gehört, wie das weibliche Wesen sich darüber beklagte, dass jetzt nicht nur das Gewicht von Raindance kein Geheimnis mehr war, sondern auch das eigene. Aber selbst wenn sie es verstanden hätte, wäre ihr nicht klar gewesen, was das Problem dabei sei.


Jetzt wurde sie um die Ecke getragen. Die Mutter folgte ihr auf der anderen Seite der Absperrung und räumte dabei mit ihren Hörnern alle aus dem Weg, die nicht schnell genug von selber Platz machten. Endlich öffneten die beiden Menschen ein magisches Tor und liessen Raindance zurück zur Mutter. Raindance war wieder glücklich.





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