Trotz der Erfahrung mit dem Zaun erkundete Raindance weiterhin die Welt mit Nase und Zunge. Eine andere Möglichkeit hatte ein Texas Longhorn schlicht nicht. Sie war begierig darauf, alles zu erforschen, was ihr über den Weg lief oder zumindest nicht wegging, wenn sie selber des Weges kam.
Es gab Steine, Pfähle, Bretter und andere völlig unbewegliche Dinge auf dieser Welt, die sich vorzüglich dazu eigneten, sich daran zu kratzen. Dann gab es zum Beispiel Pflanzen, Sträucher und Bäume, die, wie Raindance erkannte, irgendwie lebten, selbst wenn sie sich nicht fortbewegten. Jedenfalls veränderten sie sich im Gegensatz zu den unbeweglichen Dingen mit der Zeit. Sie wurden länger oder kürzer, wechselten die Farbe oder produzierten andere Dinge, die man vielleicht fressen konnte. Und genau das war es, woran Raindance am meisten interessiert war.
Fressen war nebst Schlafen und Herumtollen ihre tägliche Hauptbeschäftigung. Was selber keine Beine hatte, kam grundsätzlich als Nahrungsmittel in Frage. Das musste Raindance nicht erst lernen; dieses Wissen war ihr angeboren. Schon nach ein paar Tagen probierte sie von diesem grünen Gras. Es schmeckte ganz vorzüglich! Auch das Heu, das dem Gras im Geschmack sehr ähnlich war, aber eine etwas andere Konsistenz hatte, war sehr gut zu fressen.
Bei Äpfeln wurde es schwieriger. Man musste unterscheiden. Kamen die Äpfel von der Hand der alten Frau, die täglich mehrmals vorbeikam, konnte man sie problemlos fressen. Lagen sie auf der Weide, waren sie zu gross für Raindance. Abbeissen war für ein Texas Longhorn keine Option. Entweder man frass den Apfel ganz oder gar nicht. Liess jemand ein Stück übrig, dann meist nur, weil ein Wurm darin wohnte. Hätte Raindance Humor gehabt, hätte sie bestimmt über folgenden Witz gelacht: Was ist schlimmer als ein angebissener Apfel mit einem Wurm drin? Ein angebissener Apfel mit einem halben Wurm drin.
Weiter konnte Raindance bald zwischen Wesen unterscheiden, die flogen und Wesen, die liefen. Bienen gehörten zu den Fliegern. Wie sie selber im Stall, gingen die Bienen in dem summenden Häuschen ein und aus - nur eben nicht zu Fuss. Dann gab es lästige Bremsen und Fliegen. Anders als die Bienen krochen sie ihr hartnäckig in die Ohren und liessen sich auf ihrer Nase oder am Eingang des Tränen-Nasen-Ganges nieder und brachten so ihre Augen zum Überlaufen. Ausserdem stachen sie. Machen konnte man nicht viel dagegen, ausser den Kopf an jemand anderem reiben, sich schütteln, herumrennen oder mit dem Schwanz peitschen. Wurde es der Herde zu viel, floh sie in den Stall. Dort war es kühl und schattig - das mochten die Fliegen und Bremsen weniger.
Es gab aber auch noch grössere fliegende Wesen: Vögel in ganz unterschiedlicher Grösse, Farbe und Form. Manche lebten ebenfalls in Herden, andere waren nur einzeln oder zu zweit unterwegs. Raindance versuchte, sie als Spielkameraden zu gewinnen, aber immer, wenn sie mit ihnen herumrennen wollte, flogen die Vögel davon. Raindance wurde es bald zu dumm. Fortan ignorierte sie die Vögel.
Weiter gab es Katzen, die, anders als sie und ihre Herde, auch hinter dem Zaun frei herumlaufen konnten. Ausserdem konnten sie auf Bäume klettern und dort so viele Äpfel fressen, wie sie wollten. Etwas später sollte Raindance Bekanntschaft mit Füchsen, Rehen und Hasen machen. Auch diese Tiere bewegten sich völlig frei durch die Landschaft.
Doch Raindance bekümmerten solche Unterschiede nicht. Es schien einfach eine Eigenart dieser Wesen zu sein, so wie die Milch allein zur Mutter gehörte oder die leckeren Apfelstücke zur alten Frau. In Raindances Augen gab es kein Hadern. Die Dinge waren, wie sie waren, sie dachte nicht weiter darüber nach. Jedenfalls nicht so wie ein Mensch. Dennoch waren ihre Erkenntnisse nicht weniger scharfsinnig und korrekt. Raindance interessierte sich nicht dafür, warum etwas geschah, sondern wie. So kam sie aufgrund mehrerer gescheiterter Versuche zum Schluss, dass es ihr nicht möglich war, hinter den Zaun zu gehen, wohl aber gewissen anderen Tieren.
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