Die weitaus seltsamsten Wesen waren für Raindance die Menschen. Allein wie sie aussahen war schon komisch. Ihre Gesichter waren entweder eingerahmt von langem oder kurzem Haar in allen möglichen Farben und Schnitten. Bei manchen war der Kopf auch vollkommen kahl. Hätten sie nicht Augen, Mund und Nase gehabt, man hätte kaum unterscheiden können was hinten und vorne war. Manchmal trugen sie Hüte auf dem Kopf oder verdeckten ihre Augen mit Sonnenbrillen. Der restliche Körper war meistens von Fell bedeckt, manchmal wiederum waren Arme und Beine nackt. Das Fell hatte eine aussergewöhnliche Konsistenz, es hing mehr am Körper der Menschen als dass es zum Körper zu gehören schien. Das Verwirrende aber war, dass sie es ständig wechselten. Und wie schnell so ein Fellwechsel ging! In einer einzigen fliessenden Bewegung konnten die Menschen sich einer ganzen Schicht entledigen, woraufhin darunter meistens eine dünnere, anders farbige Schicht zum Vorschein kam. Raindance fand das faszinierend. Schliesslich hatte Mutter Natur für ihresgleichen nur ein Sommer- oder Winterfell vorgesehen. Die Felle mancher Kälber wurden zwar während des Heranwachsens dunkler oder heller. Aber die Zeichnung des Fells änderte sich niemals - abgesehen davon, dass Flecke und Punkte natürlich proportional zum Tier grösser wurden.
Raindance unterschied die Menschen jedoch sowieso nicht nach Farbe oder Beschaffenheit ihres Fells. Wie alle Texas Longhorns konnte sie nur Blau- und Grüntöne, jedoch keine Rottöne sehen. Sie war also teilweise farbenblind. Sie erkannte die Menschen in erster Linie am Geruch, aber auch an ihrer Stimme, der Körperhaltung und der Art, wie sie sich bewegten.
Vier dieser Menschen sah und hörte sie täglich. Sie schienen ganz in der Nähe ihren Stall zu haben und kamen mehrmals pro Tag zu Besuch. Meist blieben sie ausserhalb des Zauns stehen, obschon Raindance nicht annahm, dass dieser ihnen etwas anhaben könne. Aber es lag sowieso nicht in der Natur des Texas Longhorns, etwas zu hinterfragen. Raindance beobachtete allerdings, dass die Menschen den Draht offenbar anrühren konnten, ohne dass ihnen ein Leid geschah. Sie konnten den Zaun mit ihren Händen sogar so weit bringen, dass er eine völlig andere Richtung nahm. Das war schon spektakulär. Und sehr hilfreich. Weil wann immer die Menschen das taten, stand der Herde anschliessend meistens eine frische Weide offen. Manchmal passierte freilich auch das Gegenteil und der Herde wurde dadurch der Zutritt zu einem Territorium verwehrt.
Um die Menschen herum geschahen viele sonderbare Dinge. Sie konnten Sachen bewegen, die eigentlich unbeweglich waren: Steine vom Boden aufheben und ihnen das Fliegen beibringen oder komische Maschinen bedienen, die Lärm in unterschiedlichen Tonlagen machten. Manche Maschinen waren so gross, dass ein Mensch sich sogar hinein oder darauf setzen konnte. Und dann bewegte sich die Maschine im völligen Einklang mit dem Menschen. Es sah aus, als wäre die Maschine dem Menschen komplett zu Willen. Und doch kam es ab und zu vor, dass eine Maschine sich plötzlich weigerte weiterzuarbeiten. Dann waren die Menschen unzufrieden mit ihr. Raindance erkannte das daran, dass die Menschen dann ihre Stimme erhoben und manchmal sogar auf die Maschine einschlugen. Den Maschinen schien das jedoch nichts auszumachen.
Die Menschen gaben Raindance Rätsel auf. Nichtsdestotrotz akzeptierte sie die Menschen als herrschende Rasse. Es war nicht so, dass sie Angst vor ihnen hatte. Aber die Menschen hatten die Macht. Von ihnen ging eine Überlegenheit aus, die ganz klar spürbar war. Was immer sie anrührten, gehorchte ihnen. Es gab nichts, was sie nicht steuern konnten. Und obschon Raindance - wie alle Texas Longhorns - nicht nur neugierig war, sondern auch vorwitziger war als alle anderen Kälber der Herde, schwang in ihren Interaktionen mit den Menschen doch immer auch ein leises Misstrauen mit.
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