Allmählich lernte Raindance, dass es klare Regeln gab im Leben. Zum Beispiel Tag und Nacht. Sonne und Regen, Wind und Nebel. Diese Dinge kamen und gingen, manche regelmässig, andere nicht. Raindance nahm sie hin und passte sich ihnen an. Weiter gab es Regeln wie den Zaun, der eine Art Grenze markierte, obschon die Welt auch dahinter weiterzugehen schien und das Gras dort erst noch viel saftiger aussah.
Dann gab es die Herdenregeln. Raindance wusste, dass ihr Leben stark von ihrer Mutter abhing. In deren Nähe hatte sie Milch, Wärme und ihre Ruhe. Wenn sie fressen oder schlafen wollte, war es deshalb wichtig, immer nah bei ihrer Mutter zu bleiben. Raindance profitierte somit instinktiv von der wichtigsten Regel in der Herde überhaupt: dem Vortritt des Stärkeren. Das zählte im Leben eines Texas Longhorn mehr als alles andere. Der Vortritt des Stärkeren war nicht nur eine Regel - es war ein Gesetz.
Vom Gesetz des Stärkeren hing auch die Rangordnung ab. Diese war in der Herde klar geregelt. Das grosse schwarze Tier, dem Raindance vom ersten Tag an möglichst aus dem Weg gegangen war, war ein Bulle. Er hiess Choose a Coke. Es gab noch einen zweiten Bullen, dessen Fell beinahe so ebenmässig gepunktet war wie ein Dalmatinerfell. Er hiess Dusty Cowboy. Aber Choose war der Chef. Und das gab er bei jeder Gelegenheit nicht nur Dusty zu spüren, sondern auch allen anderen. Wo er hin wollte, musste ein anderer weichen.
An der Wellness-Station und besonders an der Fressachse zeigte sich das Gesetz des Stärkeren sehr deutlich. Alle vertrieben die jeweils Schwächeren aus dem eigenen Radius. Selbst die Mütter nahmen nur bis zu einem gewissen Alter Rücksicht auf ihre Kälber, wenn es um das beste Futter ging - ganz besonders Raindances Mutter, aber das sollte sie erst später lernen. Die Mutter, die älteste und grösste der Herde, war nämlich die Leitkuh. Und die liess sich nichts wegfressen. Sie war stets die erste an der Fressachse, im Heuhaufen oder beim Weidewechsel. Wollte eine andere ihr den Rang ablaufen, wurde sie unbarmherzig in die Schranken gewiesen. Dazu genügte manchmal ein einziger Hornschlag; es konnte aber auch zu einem längeren Kampf kommen, je nachdem wie motiviert die jüngere Kuh war.
Auch ein Liegeplatz gehörte einem nicht für immer. Wollte ein älteres Tier den Platz haben, gab es nur eine Chance: den Kopf auf den Boden drücken und sich so flach und lang wie möglich machen. Doch das half meistens nicht lange. Man wurde einfach so lange traktiert, bis man aufstand und sich einen neuen Platz anwärmen musste.
So war das Gesetz des Stärkeren. Ein Texas Longhorn regte sich nicht darüber auf. Im Gegenteil: das Gesetz war simpel und es lag ganz einfach in der Natur jedes wilden Lebewesens. Weder trug man einander etwas nach, noch war man beleidigt, wenn man verlor. Jeder hatte seine Chance. Manche nutzten sie geschickter als andere. Manche hatten von Beginn an die besseren Voraussetzungen - körperlich und mental. So war das eben. Es war genau dieses Gesetz, das die Generationen vor Raindance so schön und stark gemacht hatte. Und überlebensfähig in der einsamen Prärie. Nur die Taffsten kamen durch, die mit den längsten Hörnern, den schnellsten Beinen, die Gescheiten und die Aufmerksamen.
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